DB

Wer saß nicht schon einmal in einem Zug? Egal ob es eine lange oder kurze Strecke war, fast jeder von uns hat schon einmal den Dienst der Bahn in Anspruch genommen – sei es in diesem Land oder in einem anderen. Der Service rund um den Zug in unterschiedlichen Ländern ähnelt sich sicherlich, wenn wir vom “westlichen Stil” ausgehen. Sobald ein Zug in Indien bestiegen wird, wissen wir, was wir an der DB haben. Sowieso sollten wir den Service der DB nicht mit anderen westlichen Bahnunternehmen vergleichen – wir sollten weiter schweifen, in Länder, wo jeder einzelne Fahrgast glücklich über den Service wäre, den wir so oft bemängeln. Pünktlichkeit, so sagt man, ist eine deutsche Tugend. Ist es nicht egal, ob der Zug uns nach Fahrplan an den Ort unseres Begehrens bringt oder mit Verspätung? Vielleicht legen wir einfach die Prioritäten falsch. Erst vor kurzem erlebt, dass die Bahn 30 Minuten verspätet eintraf. Was sind 30 Minuten in unserem Leben? Nicht wirklich viel. Es sind 30 Minuten, die man vielleicht mit anderen Dingen hätte füllen können, aber sind diese 30 Minuten nicht eine wertvolle Zeit? Was kann in 30 Minuten nicht alles an einem Bahnsteig erlebt werden? Ein sich liebendes Paar, das die 30 Minuten Verspätung sichtlich genießt. Mehr Zeit zum Verabschieden und Drücken und Liebesschwüre austauschen. Ein Kuss, eine feste Umarmung, ein erneutes Drücken, ein *hach* … eine Träne. Oder die Verabschiedung vom lang ersehnten Enkel. Was für ein Glück! Noch 30 Minuten mehr! Wer hätte das gedacht – einfach der Hammer! Wer sieht sie nicht, die viel beschäftigte Frau, die leicht genervt mit ihrem Rollenkoffer am Bahnsteig steht. Sicherlich gerade von der Arbeit zum Bahnsteig gehetzt, in letzter Sekunde ein Taxi erwischt. Arbeit hinter sich liegen gelassen. Menschen weggerämpelt, einfach ausm Weg geschubst. Ein Meeting abgesagt. Und jetzt das. Bahn verspätet. Ätzend! Aber, beim weiteren Beobachten, fällt einem auf, dass genau diese Frau nach ca. 10 Minuten entspannt. Ihre Schultern kreisen lässt. Den Griff um die Rollkofferziehvorrichtung lockert. Nach einem Kiosk Ausschau hält und sich eins von diesen Frauenmagazinen kauft. Sich hinsetzt und in dieser Zeitschrift blättert, danach aussieht, als ob der Zug auch noch eine Stunde auf sich warten lassen kann, egal, der Kiosk hat noch mehr Zeitschriften. Und erst einmal das Horoskop, das besonders gut auf diesen Tag, die Woche oder auf den Monat passt. Gerade erst heute morgen Stress mit ihrem Partner gehabt. Der nach einem Italiener aussehende Mann, gar nicht weit von ihr entfert, beäugt sie schon die ganze Zeit. Wenn der nicht klasse aussieht. Dann weiß auch der Rest des Bahnhofs nicht, was genau diese Frau eigentlich will. Und da, der ältere Herr mit der Baskenmützen und seiner Pfeife, die kalt daher kommt – denn: Rauchen ist auf dem Bahnsteig bekanntlich verboten – ich schweife ab, auf alle Fälle steht da dieser ältere Herr. Adrett angezogen, mit seinem graufarbigen Anzug und seinem leichten Sommermantel übern Arm. Irgendwie sieht er verloren aus. Wie er da so steht. Neben ihm eine Gruppe Jugendlicher. Scheinen nicht von hier zu sein. Bei näherem Hinhören könnte man auf Engländer tippen. Die Gruppe, sagen wir mal Engländer, versteht die blechernde, harte Stimme aus den Lautsprechern nicht, die die Verspätung von 30 Minuten ansagt. Es ist eine leichte Unruhe in der Gruppe zu verspüren. Was wurde da gesagt? Hoffentlich muss das Gleis nicht gewechselt werden. Nervös schauen sie auf ihr Gepäck. Zu viel, um in kürzester Zeit den Bahnsteig zu wechseln. Es scheint sich keiner hier zu bewegen. Erleichterung. Kein Bahnsteigwechsel. Der ältere Herr neben der Gruppe, dreht sich ihr zu. Lächelt. Hier und da aus der Gruppe wird ein Lächeln erwidert. Pause. Der ältere Herr räuspert sich. Sammelt sich. Seine Stirn legt sich in kleinen, feinen Falten. Er scharrt mit dem rechten Fuß, als wolle er an einem Trabrennen teilnehmeen. Doch zu meinem Erstaunen, fängt er an zu sprechen. Er spricht in akzentfreiem Englisch die Gruppe neben sich an. Klärt sie über die Lautsprecheransage auf. Und ist dann mitten im Geschehen. Und wenn ich hier mittendrin schreibe, dann meine ich mittendrin. Umringt von der Gruppe, viele Fragen und mittlerweile seine Pfeife in der noch freien Hand haltend, gibt er Antworten, immer lächelnd. Ich höre nur Wortfetzen, würde gerne mehr verstehen, lehne mich vor … oh nein, da kommt der Zug schon! Wie schnell können doch 30 Minuten vergehen. Kaum zu glauben! Meine Platzreservierung trennt mich von dem älteren Herren, der englischsprachigen Gruppe, dem Liebespärchen, von dem nur die Hälfte mitreisen wird, und der Businessfrau. Mit meiner Reservierung in meiner Hand suche ich nach dem richtigen Platz. Endlich gefunden. Die bereits sitzende Dame steht für mich auf, um Platz zu machen. Uffz, sitze am Fenster und sortiere gerade meine Beine, hole mein Buch heraus und freue mich auf die Reise. In meinem Buch lesend. Ab und an einfach mal herausschauend. Den Gedanken feien lauf lassend. Die Bäume, Häuser, Menschen ziehen vorbei. Die Reise zu meinem Liebsten. Egal wie lange es dauern wird, ich werde ans Ziel kommen … und nun folgt etwas, das werdet ihr kaum glauben. Die Dame neben mir wettert über die 30 Minuten, die wir gerade am Bahnhof haben verbringen “müssen”. In ihren Beschwerden wohl gerade warm werdend, rattert sie los. Kaum zu bremsen. Es ist ein monotones Geschnatter in meinen Ohren. Ratamm, ratamm, es ähnelt dem Geräusch des fahrenden Zugs. Was gibt es da für mich an Aktionsradius? Ich habe das Gefühl, wenn ich sie jetzt bremse, ist es genauso sträflich wie das Ziehen der Notbremse. Sehe ich so aufnahmefähig aus, oder warum schwatzt sie mich voll mit ihrem ganzen Ärger und ihrer ganzen Wut? Warum bin ich das Ziel? Ich habe weder Psychologie studiert noch kann ich therapieren. Bin völlig unbescholten. Einfach nur ich. Was kann ich tun? Es gibt nur zwei Wege für mich. Entweder nicke ich und bin dabei stumm oder ich heize sie noch mehr an, und sie wird nach einer Weile Amok in diesem Zug laufen und alle anschreien, verklagen oder sogar gewalttätig. Die andere Variante ist, ich halte einfach meine Klappe, nicke und lese stoisch mein Buch, starre hier und da nach draußen. Sie wird schon aufhören. Die dritte Variante schließe ich von Anfang an aus: sie zu beruhigen und mit logischen Argumenten von ihrem Trip abzubringen … aus Erfahrung kann ich sagen, da redet man sich einfach fusselig. Da gibt es kein Ende. Man verstrickt sich in Gespräche, von denen man nie geträumt hat (und wenn, wacht man man von denen schweißgebadet auf). Da kommt nix bei rum. Ich starre also in mein Buch, nicke hier und da und nach nicht einmal 10 Minuten ist die Dame neben mir verstummt. Ehrlich gesagt, würde ich diese neben mir sitzende Dame nirgends wieder erkennen. So wenig habe ich sie während dieser über 4-stündigen Zugfahrt angesehen. Jedoch den älteren Herren, die englischsprachige Gruppe, das Liebespärchen und die Businessfrau – all die, würde ich sogar bei der Polizei beschreiben können, so dass ein Phantombild gezeichnet werden könnte. Das Leben ist einfach zu kurz, um sich über 30 Minuten Verspätung eines Zuges graue Haare wachsen zu lassen. Für mich waren diese 30 Minuten nett und überhaupt nicht verschwendet. Es liegt halt doch daran, wie die Prioritäten gesetzt werden. Jeder entscheidet, wie er durchs Leben kommt, ob zäh oder flüssig. In diesem Sinne: es lebe die Verspätung oder das Auge des Betrachters!

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