Der Leerlauf der Konventionen und Gewohnheiten ist spürbar. Man ist Gast, trifft seinesgleichen, guckt sich das an, was da so abgeht. Führt die ewig gleichen Gespräche. Ist gelangweilt, bewahrt trotzdem Haltung. Freut sich auf die Pausen. Und auf das Ende. Ganz besonders das Ende. Beklatscht das, an das man sich schon gar nicht mehr erinnern kann – oder verlässt sowieso sofort den Saal. Nur raus. Um dann wieder die gleichen Gespräche zu führen.
Nein, das ist nicht die Handlung von Gorkis “Sommergäste”. Das ist quasi die Handlung des Stückes, welches parallel gegeben wurde: “Theatergäste”.
Es bereitete mir äußerstes Vergnügen, während alberner Klamauk auf der Bühne vorgetragen wurde, meine Blicke ins Publikum zu lenken und die Reaktionen dort aufzunehmen. Von diesem Ulk auf der Bühne bot die Inszenierung von Alize Zandwijk am Thalia Theater in Hamburg jede Menge. Vor allem die ersten beiden Akte waren gespickt davon und lenkten nur zu sehr von den Dialogen der Hauptdarsteller ab. Schelmisch könnte man annehmen, dass es Intention gewesen war, um dem gemeinen Theatervolk, dem Bürgertum von heute, ein Spiegel vorzuhalten – oder ihnen wenigstens etwas Kurzweil zu bieten, auch wenn sie der Rest anödete. Vielleicht war es aber auch nötig, um die komischen Momente des Bürgertums von heute, welches Lacoste und Ralph Lauren trägt, hervorzuheben.
Die Personen auf den Brettern spielten allesamt sehr überzeugend. Jeder schien seine Rolle verinnerlicht zu haben und war ganz Mensch. Der Mensch aus dem Stück. Auch wenn man den Eindruck haben konnte, dass manche Dialoge ohne Biss geführt wurden, so wäre ich nicht abgeneigt zu behaupten, dass das gewollt war: Die ewig gleichen Dialoge werden nicht mit Biss geführt. Das ewig Gleiche ist langweilig. Biss bekam das Ganze, als einige im vierten Akt erkannten, in welche zum Teil grotesken Rollen sie sich fügen mussten, als man aussprach, was man dachte. Als der Idealismus der Ärztin Mario Lwowna vor allem die jüngeren der Anwesenden einnahm. Um “den uns nahestehenden Menschen, die ihre Tage in harter Arbeit verbringen und in Schmutz und Finsternis verkommen, die helfende Hand zu reichen, ihr Leben umzuformen, zu erleuchten und erträglicher zu gestalten”.
Der Rest, dem dieser Idealismus einfach zu viel oder zu wider war, blieb Bürger, weil es das war, was sie wollten: “ein Bürger sein”.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass das geehrte Theaterpublikum zwar zustimmend genickt hat, als Maria Lwowna ihre Ansprache wider den sinnlosen Klagen der Wohlhabenden hielt, als sie die scheinbare Elite aufrief, anstatt über ihr ach so schlechtes Leben zu jammern, die Geschicke aller in die Hand zu nehmen, zu helfen, Vorbild zu sein. Dass dieses Theaterpublikum dann aber erleichtert zurück in die Theatersessel sank, als der Ingenieur Suslow sich verteidigte, dass er das Elend kenne, da er es schließlich als Kind miterlebt hätte. Dass er jetzt alles Recht besäße, sich nur um sich zu kümmern, Bürger zu sein, ein einfacher Bürger. Nichts weiter. “Suslow hat doch bestimmt recht”.
Nur Theaterzuschauer sein, nur das Stück sehen, weil gerade Samstag ist, weil man ins Theater geht. Weil das halt so ist. Schön, wenn es dann noch etwas zu lachen gibt. Schlecht, wenn man genötigt wird, sich Gedanken zu machen. Ein Stück mit einer Botschaft. Widerlich. Es sei denn, sie wird offensichtlich präsentiert, damit man dann in der Diskussion in der Pause nicht als Dummer dasteht. Wobei das auch egal ist: Man benutzt dann die erprobten Phrasen, flüchtet sich wieder in Konventionen: “Wenn man bedenkt, wann das Stück geschrieben wurde!”, “Ja, und so aktuell!”, “Also das Bühnenbild ist ja fantastisch!”, “Etwas lauter könnten sie sein, etwas lauter …”, “Wie scharfsinnig beobachtet vom Autor!”, “Und wie er da mit dem Stuhl … also köstlich!”
Dazu gibt es einen Prosecco oder ein kleines Bier. Und man steht am Balkon und guckt sich die anderen Theatergäste an: “Ach schau mal, die auch hier”. Man tauscht aus, welche Stücke man schon gesehen hat, und welche man noch beabsichtigt zu sehen. Ein ganzes Haus voller Kulturvolk. Fast. Die Klingel ertönt, der Rest vom Bier wird vernichtet und man eilt zurück in den Saal – muss ja. Schade, dass der zweite Teil weniger Ulk bietet als der erste Teil. Manch einer hat sich in der Pause Mut angetrunken und kommentiert das Geschehen auf der Bühne. Gut für die Theatergäste, die alters- oder platzbedingt schlecht sehen können. Andere wiederum holen den Schlaf der vergangenen Nacht nach. Man wird schon nichts verpassen. Das Wichtigste stand sowieso im kostenlosen Handzettel, den man dem Programmheft für 3 Euro vorgezogenen hat. Das reicht, um beim nächsten Theaterbesuch den Umstehenden zu verkünden, was man schon gesehen hat.
Die Stücke auf und vor der Bühne gingen an diesem Abend eine wunderbare Symbiose ein. Es war Entzückung und Verärgerung zugleich, als auf der Bühne festgestellt wurde “Hier stirbt niemand”, es Dunkel wurde, das Klatschen zaghaft anfing – und die ersten bereits durch die Reihen drängten, um gleich vorn an der Garderobe zu sein. Eine absolute Unsitte und eine Unverschämtheit gegenüber den Schauspielern, die damit um ihren Lohn betrogen werden. Aber gleichzeitig symptomatisch für viele Besucher: Nur raus hier. Man hat lang genug gesessen. Und schließlich hat man bereits Geld bezahlt, das sollte Lohn genug sein.
Das Stück kann ich im Übrigen empfehlen: Einfach an einem Samstag ins Theater gehen und das Publikum betrachten. Das andere Stück – “Sommergäste” am Thalia Theater – ist ebenfalls sehenswert, nicht nur wegen des beeindruckend realistischen Bühnenbilds von Thomas Rupert. Der Klamauk zwischen den Dialogen und der Handlung ist erträglich und scheint die Bitternis der Personen auf der Bühne zu karikieren. Ansonsten einfach ins Publikum blicken. Es kann amüsant sein.