Der Einstand von Friedrich Schirmer, dem neuen Intendant am Hamburger Schauspielhaus, fällt sehr maritim aus. Nicht nur durch das neu gewählte Logo, den Delphin, sondern auch durch das erste große Stück im Haus.
Henrik Ibsens »Die Frau vom Meer« erzählt in der Inszenierung von Jacqueline Kornmüller von Gewohnheit, den Träumen nach der weiten Welt, dem offenen freien Meer, den Ängsten, die wir in uns tragen. Da ist diese Frau, die am Meer geboren, einen Mann in zweiter Ehe geheiratet hat. Zwei Töchter hat er, beide fast erwachsen. Zusammen leben sie in den Bergen am Fjord. Scheinbar eingeengt vom Alltag, von dem ewig gleichen. Sie, die angeheiratete (brillant gespielt von Marion Breckwoldt), die sich nicht so recht abfinden mag mit der Enge, die ihre Ehe als Handel zwischen ihrem Mann (Otto Kukla) und sich selbst sieht (“Damit Du mich versorgst”).
Man wird Zeuge eines Ausschnittes im Leben der beiden: Ein Freund der Familie und ehemalige Lehrer der ältesten Tochter ist zu Besuch. Außerdem ist da noch dieser junge Künstler Lyngstrand. Schon früh musste er zur See fahren, erlitt Schiffbruch – und einen kleinen Knacks. Das war sein Glück. Seitdem konnte er Künstler sein. War frei. Er erzählt von seinen Ideen. Ganze Figurengruppen will er in Stein hauen: “Selbst Erlebtes!”. Zum Beispiel diese junge Seemannsfrau, wie sie schläft. Und dann da dieser zweite Mann, der eigentlich ertrunken ist und dennoch zurückkehrt, die junge, schlafende Frau ansieht, weil sie ihm gehört. Mit dieser Geschichte, die der junge Künstler so emotional und so ehrlich erzählt (hervorragend vermittelt von Felix Kramer), scheint die fast mystische Vergangenheit der Frau vom Meer Ellida zurückzukehren. Die Beziehung mit einem Steuermann, fast zehn Jahre her, der mit ihr die Welt erobern wollte, dem sie sich versprochen hatte, bevor er auf große Fahrt ging. Lange hatte sie nicht mehr an ihn gedacht, bis es vor drei Jahren wieder anfing: Die Träume, die Gedanken, die “große Grausamkeit”. Natürlich ist dieser verschollene Steuermann wieder da: Jetzt, Jahre später ist er wieder in diesen Bergen am Fjord. Ellida steht vor der Wahl zwischen ihm, der ihr die Freiheit verheißen könnte, mit dem sie sich loslösen könnte von dem Alltag, von ihrem Handel, und ihrem Ehemann, dem Arzt und seinen Töchtern, das gleiche scheinbar langweilige Leben führend.
Das Bühnenbild (von Etienne Plus) vermittelt auf beeindruckende Art und Weise die Weite und das Nichts des Meeres – und wahrscheinlich auch das Leer der Gefühle der Menschen: Eine riesige, ebene Fläche und nichts hindert den Blick bis ganz nach hinten. Auf alles andere wurde komplett verzichtet. So bilden die Menschen, ihre Gespräche und Emotionen die Highlights in dieser Ödnis. Man fühlt sich mittendrin: Im Meer der Gedanken, Träume und Wortfetzen des Alltags.
Marion Breckwoldt, die selbst in Hamburg geboren wurde und bis vor kurzem noch in München auf der Bühne stand, spielt mit einer entzückenden Natürlichkeit die Rolle der Ellida. Nicht ohne komödiantische Elemente verkörpert sie zum einen das Normale, Alltägliche, zum anderen aber auch die Sehnsucht und die Träume. Beides nehme ich ihr unbesehen hab. Es ist erfrischend, wie sie banalen Dialogen Natürlichkeit einhaucht und zugleich ergreifend, wie sie ihren Gedanken und Ängsten Ausdruck verleiht.
Für mich sehr enttäuschend, konnte Otto Kukla, der den Ehemann und Arzt Doktor Wangel spielt, den Emotionen und Vorlagen von Marion Breckwoldt nichts entgegensetzen. Seine Stimme, die völlig unmotiviert immer gleich nach oben und nach unten gelenkt wurde. Seine Reaktionsschwachheit, die vor allem jene Dialoge zerstörte, die theoretisch Sprengstoff bedeuteten (Ellida eröffnet ihrem Mann im Bett, dass sie die ganze Zeit nur an den Steuermann aus ihrer Vergangenheit denken musste), lassen manche Szenen einfach beim Zuschauer verpuffen. Beim Anblick der immer gleichen und einzigen Geste von Otto Kukla (Hände nach vorn, ein Bein nach vorn), fühlte ich mich in eine Spielprobe des Amateurtheaters versetzt. Wenn der Ausdruck der Langweiligkeit so von Regisseurin und Schauspieler gewollt war, dann wurde er bravourös gemeistert.
Felix Kramer, der den Lynstrand spielte, stach durch seine Lockerheit und Natürlichkeit zwischen den anderen Nebendarstellern hervor. Ihm konnte ich sofort den jungen naiven Künstler abnehmen, der Pläne und Gedanken in seinem Kopf schwirren hat, und den selbst die Zurückweisung durch die älteste Tochter nichts anhaben kann: Nimmt er halt die andere Tochter.
Monique Schwitter, die Hilde, die jüngste Tochter spielt, nutzte mir zu viel das Mittel der X-Beine, um jung und naiv auf der Bühne zu wirken. Man hat dies inzwischen zu oft in Stücken gesehen. Und nicht überall ist es in dieser Form angebracht. Es muss auch anders gehen.
Von Otto Kuklas Spiel abgesehen, ist diese Inszenierung in meinen Augen ein großartiger Auftakt der neuen Spielzeit und der neuen Intendanz am Hamburger Schauspielhaus. Das Stück macht Lust auf mehr – und Meer, um einen Kalauer zu bedienen. Es hat durchaus das Zeug, einen dazu zu bewegen, über Gewohnheiten, Zwänge, Träume und Ängste nachzudenken.